Vor 64 Jahren haben die Alliierten Auschwitz befreit. Ich erinnere mich, dass ich mal im Geschichtsunterricht der 12. Klasse gesagt habe, dass ich zwar darüber viel weiß, weil das in zunehmender Tiefe inzwischen sechsmal in der Schule vorkam und ich auch privat einiges gelesen und gesehen haben, dass mir das aber nicht helfen würde, das zu verstehen und zu fassen.

Im letzten November habe ich Auschwitz für einen Tag besucht. Ich fuhr mit dem Zug von Krakau. Auf dem Bahnhof versuchten die Uhren die Zeit von 7 bis 9.45 im wenigen Minuten aufzuholen. – Auschwitz wurde wegen seiner guten europaweiten Zugverbindungen ausgewählt -. Das Museum ist in Auschwitz I untergebracht, das im wesentlichen aus einem Kasernen-Gelände besteht. Vor der Führung hatte ich gute eineinhalb Stunden Zeit, mich umzusehen. Das Museum hat wenig verändert, die vorhandenen Bauten praktisch nur um Hinweistafeln ergänzt. Das innere der Gebäude wird allerdings großenteils als Museumsgebäude genutzt, einige Kasernen wurden auch zu Gedenkstätten bestimmter Opfergruppen. Das Museum ist gut gemacht und angemessen, die Führung sehr empfehlenswert.

Trotzdem ist man aus der Wirklichkeit genommen, der Ort scheint zu harmlos für das Geschehene. Dabei ist der Ort nicht harmlos, Elektrozäune, Schießstände, Galgen, unmenschliche Gefängniszellen, eine Gaskammer und gleich daneben die Verbrennungsöfen, auf denen groß der Firmenname „J.A. Topf und Söhne“ prangt, ein „Krankenhaus“, das durch Mengele berühmt wurde. Man kann es nicht fassen, es bleibt außerhalb, wahrscheinlich setzt einen der eigene Geist ist einen Schutzmodus und gleichzeitig weiß man, dass nur zwei Kilometer weiter in Birkenau das Grauen noch viel größere Dimensionen hatte.

Aber es passiert noch etwas anderes, auch befördert dadurch, dass ich mich im Ausland und inmitten von internationalen Besuchern befinde. Die Sprache der Originaldokumente, in denen die Juden zu Zwangszahlungen aufgefordert wurden, die den Zyklon-B Lieferungen mit euphemistischen Bezeichnungen beilagen, der hetzerischen Zeitungsartikel, der Dankesschreiben der Industrie etc., ist Deutsch. „Wir waren das.“ wiederholt sich in meinem Kopf. Das ist keine Schuld, die man auf einige wenige reduzieren könnte.

Mir kommt die Frage in den Sinn, ob Kunst nach Auschwitz noch möglich sei. (Ich glaube, Adorno war das, auf die Lyrik bezogen).  Ich verstehe den Impuls. Auschwitz stellt alles in Frage. Es ist aber sogar möglich, nach Auschwitz noch Nazi zu sein. Der Gedanke ist schwer zu ertragen. Und ich glaube, dass sich heute, genau wie in der 12. Klasse sich etwas in mir sträubt, mein Menschenbild soweit zu erweitern, dass es das einschließt, was damals passiert ist.

Nach ca. 6 Studen im Stammlager fuhr ich hinüber zu Auschwitz Birkenau. Das Areal ist überwältigend groß, das Eingangsgebäude ist einem so eingebrannt, dass es wie ein Deja-Vu wirkt. Es ist pervers effizient, die Bahngleise enden vor den Gaskammern, dahinter die Öfen, ein ganzer See wurde mit der Asche der Toten gefüllt. Industrielle Vernichtung und Verwertung der Hinterlassenschaften. Im Museum gibt es ein Gebäude, in dem Brillen, Schuhe und tonnenweise Haare der Toten aufbewahrt werden. Nur 3 von 11 Lagerhäusern blieben erhalten und das ist nur der Teil, der nicht mit den Güterzügen zur Verwertung zurückgeschickt wurde. Wie muss ein Mensch funktionieren, dem Menschen entgegenkommen, die von tagelanger Zugfahrt ausgezehrt sind, auch Frauen mit kleinen Kindern, und der kein Mitleid empfindet, sondern alle ins Gas schickt, die nicht kräftig genug für die Zwangsarbeit sind? Und wie stumpf und dumm muss man sein, um heute noch Nazi zu sein?

Drei Tage davor war ich in Kasimierz, dem jüdischen Viertel Krakaus. Voller Zeichen einer Kultur, die man in Deutschland praktisch nicht mehr findet, Namen auf den Grabsteinen, die deutsch klingen, aber bei uns nicht mehr zu finden sind. Was blieb von der lebendigen Kultur der zwanziger Jahre nach dem Krieg übrig? Es ist eine große Lücke geblieben.

Was das ganze noch schwerer zu fassen macht, ist dieses Gebilde aus Wahn- und Schwachsinn, dass sich Antisemitismus nennt. Dabei waren die Nazis nicht einmal religiös, eine Art Glaubenskrieg kann also nicht als Grund herhalten. Es gibt keinerlei kriegerische Auseinandersetzungen oder große Konflikte in der Geschichte, die Religion ist sehr ähnlich, nur über die Frage, ob Jesus nun der Messias ist, ist man sich nicht einig. Wahrscheinlich ist es nur, dass irgendjemand schuld sein muss, wenn es einen schlecht geht, eine beliebige, definierbare Minderheit reicht aus.

Ich bin nach dem Auschwitz-Besuch dünnhäutiger geworden. Irgendwelche dummen Nazi- oder „Wir sind die neuen Juden“-Vergleiche beschäftigen mich mehr, die Rücknahme der Exkommunikation von Richard Williamson ärgert mich länger, als es das vorher getan hätte. Die Diskussion um den Staufenbergfilm hat mehr als ein Geschmäckle.

In der Normandie im letzten Sommer hat mich die Geschichte des zweiten Weltkriegs sehr beschäftigt, aber Polen ist extremer. Die Namen der Orte sind die Namen deutscher Kriegsverbrechen. Polen konfrontiert einen mehr mit der deutschen Geschichte als Deutschland selbst.